Jede Zeit hat ihre Vorbilder, ihre Stars. Sie vereinen in besonderer Weise Eigenschaften auf sich, die ihrer Generation wichtig sind. Mitte der 60er elektrisierte beispielsweise eine britische Band mit dem griffigen Namen „The Rolling Stones“ eine ganze Generation mit ihrem Mix aus exzessivem R’n’B, androgynem Sex und dem heissen Versprechen einer Befreiung aus sämtlichen verhärteten Rollenmustern jener Zeit. 10 Jahre früher eroberte ein singender Kellner aus St. Moritz in einem ähnlichen Sturm die Herzen seiner Bewunderer und vor allem Bewunderinnen: Vico Torriani.
Vico mit den „Stones“ zu vergleichen, ist das nicht viel zu hoch gegriffen? – Sicher, aus heutiger Sicht schon. Aber damals war seine Wirkung vor allem in unserem Nachbarland Deutschland immens. Als Zeuge mag der legendäre, inzwischen verstorbene TV-Produzent Wolfgang Rademann herhalten, mit dem ich mich im Sommer 2015 über Vico unterhalten habe. «Er war ja unglaublich beliebt», erklärte er, «ein richtiger Star, so etwas gibt es ja schon lange nicht mehr...» Rademann musste es wissen. Als Produzent der in den 70er-Jahren erfolgreichen «Peter Alexander Show» kannte er alle Unterhaltungsgrössen jener Zeit. Vico Torriani hatte er schon lange vorher kennengelernt. In den 50ern, da war Rademann noch ein kleiner Reporter einer Berliner Zeitung, hatte er ihn in St. Moritz besucht. Sie blieben ein Leben lang befreundet.
Erfolgsfaktor Mehrsprachigkeit
Ich wollte von Rademann wissen, warum Torriani so erfolgreich war. «Na, er hatte eben das Zeugs dazu. Er konnte singen, tanzen, moderieren; hatte Stil, Charme, war immer elegant. Und er sprach mehrere Sprachen. Wie Caterina Valente, die konnte ja sogar 12 Sprachen.» - Demzufolge war Mehrsprachigkeit also eines der entscheidenden Attribute, die den Erfolg des Unterhaltungskünstlers und Showmasters Vico Torriani ausmachten.
Um das zu verstehen muss man sich vor Augen führen, was für eine Zeit das war damals. Vicos steiler Aufstieg begann 1955, da war die Bundesrepublik Deutschland noch keine 6 Jahre alt und eine traumatisierte Nation. Die Trümmer des zweiten Weltkriegs waren längst noch nicht alle beseitigt, in den Innenstädten klafften noch viele Bomben-Lücken, das Wirtschaftswunder begann erst richtig Fahrt aufzunehmen. An den Abenden versammelte man sich vor den Fernsehern und liess sich von herzerwärmenden Fernsehshows therapieren. Nach den Verheerungen, die der Nationalismus in Europa angerichtet hatte, wurden dort ganz andere, neue Werte kultiviert: Völkerverständigung, Weltläufigkeit und – Reisen. Im VW-Käfer mit Kind und Kegel und turmhoch bepacktem Dachträger über die Alpen nach Rimini in die Sommerferien – so sah für den neuen deutschen Kleinbürger damals Glück aus.
Vico Torriani singt ein viersprachiges Medley mit Schweizer Volksliedern. Bitte auf das Bild klicken
Schöner Schein und Fantasiewelten
Vico war die ideale Projektionsfläche für die damalige Zeit: Er war ausländisch, aber nicht zu sehr, erinnerte an einen singenden Pizzaiolo und hiess auch so (es war noch nicht einmal ein Künstlername wie bei vielen seiner Kolleginnen und Kollegen). Vico kam aber nicht aus Italien, sondern aus der Schweiz und sprach ein weitgehend akzentfreies Deutsch. Eigentlich sang er auch fast nur Deutsch, doch Fernweh troff aus Zeilen wie «Kalkutta liegt am Ganges / Paris liegt an der Seine / Doch dass ich so verliebt bin / das liegt an Madeleine»; oder «Schön und Kaffeebraun sind alle Frau’n in Kingston Town». Wenn er tatsächlich Fremdsprachen anklingen liess, dann beschränkte sich das meistens auf ein «bon soir», «buon giorno» oder «ole!». Der schöne Schein reichte vollkommen.
Man wollte es nicht so genau wissen. Eskapismus war angesagt, man liess sich gerne in bunte und weichgezeichnete Fantasiewelten entführen. Die Wirklichkeit hatte weder in Vicos Schlagern noch in seinen Fernsehshows und erst recht nicht in seinen Kinofilmen etwas zu suchen. Selbst Kochrezepte wurden in gefällige Reime verpackt und gesungen und getanzt. Wer Vico Torriani war, was er dachte und ihn beschäftigte, interessierte niemanden, wahrscheinlich nicht einmal ihn selber. „Seine“ Lieder waren ja auch nicht von ihm, sie wurden von Unterhaltungsprofis in Deutschland, Österreich und der Schweiz komponiert und geschrieben, manchmal sehr schnell und nach Schema F, wie man unschwer erkennen kann. Vico war ihr Interpret. Er interpretierte für sein vorwiegend Deutsches Publikum das Fernweh und die Sehnsucht nach einer heilen Welt.
Der wahrscheinlich einzige Hit, den er selber getextet hatte, hiess «Silberfäden» und war eine Ode an die Mutter. Auch dieses Lied war bei genauerer Betrachtung eine Flucht in eine heile Welt, die Flucht aus Vicos eigenen, bedrückenden Kindheitserinnerungen. Der kleine Vico war nämlich bei den Grosseltern in Celerina aufgewachsen, seine Mutter lebte in Genf, am anderen Ende der Schweiz. Zwischenzeitlich soll er sogar ein Verdingkind gewesen sein. Mutterliebe hatte Vico womöglich gar nie erfahren. Er und seine Schwester Claire waren oft auf sich gestellt. Die Grossmutter war als Hebamme mit Ross und Wagen im ganzen Engadin unterwegs. Auch der Grossvater hatte als Fuhrunternehmer keine Zeit für die Kinder. Nachbarn haben die vernachlässigten Geschwister manchmal von der Strasse geholt und ihnen einen Teller Suppe vorgesetzt, damit sie wenigstens etwas Warmes in den Bauch bekamen.
Risse im Bild des Sonnyboys
Doch das wusste zu Vicos Lebzeiten kaum jemand, nicht einmal seine eigenen Kinder waren über alles im Bilde. Was nicht dem strahlenden Bild des Sonnyboys und polyglotten Entertainers entsprach, wurde verschwiegen und aus Vicos Geschichte gelöscht. Das ist auch der Grund, warum es vom wahrscheinlich erfolgreichsten Unterhaltungskünstler, den die Schweiz jemals hervorgebracht hat, bis heute keine Biografie und kaum Informationen über sein Leben und seine Herkunft gibt. «Man kann seine Memoiren doch nicht erst mit dem zwanzigsten Lebensjahr beginnen», soll er jeweils gesagt haben, wenn mal wieder jemand mit so einem Ansinnen an ihn herangetreten ist. Immerhin: Gegenwärtig ist eine umfangreiche Biografie in Arbeit. Sie soll zu Vicos hundertstem Geburtstag am 19. September 2020 erscheinen. Ob es dann noch eine interessierte Leserschaft geben wird, der Vico Torriani ein Begriff ist, wird sich zeigen.
Wenn man Vicos Leben rekonstruiert, kann man zum Schluss kommen, dass er die viersprachige Schweiz verkörpert hat wie kaum jemand sonst. Geboren ist er in der äussersten Romandie, nämlich in Genf. Dann ist die junge Familie in nach St.Moritz gezogen, wo sein Vater einen Job als Stallknecht eines indischen Maharadschas bekam. Dort wohnten auch die Grosseltern. In deren rätoromanischen Haushalt kam Vico, nachdem die Familie von den Behörden getrennt worden war, weil der Vater trank. Die italienische Schweiz ist in Vicos Familiennamen vertreten: Torriani, Vico war heimatberechtigt in Soglio im Bergell. Später lebte er vor allem im deutschen Sprachraum. Obschon bildungsfern und in desolaten Verhältnissen aufgewachsen, war Vico wahrscheinlich von Haus aus viersprachig. Das können die wenigsten Schweizerinnen und Schweizer von sich behaupten.
Führt man sich die alten Vico-Shows zu Gemüte, gewinnt man den Eindruck, dass Vico sich tatsächlich auch als Botschafter des «erweiterten Horizonts» im Sinn einer neuen Weltläufigkeit verstanden hat. Er regte sein Publikum dazu an, über die Grenzen Deutschlands hinaus zu blicken. Mit exotischen Szenarien; mit Rumba, Bossanova, Tango und Co; und auch kulinarisch: Mit internationalen Kochrezepten warb er für eine neue Esskultur jenseits von Schweinebraten, Sauerkraut und Mehlschwitze. In seinen Spielfilmen entführte er sein Publikum zudem auch physisch nach Italien, Frankreich, Spanien und in die Schweiz. So brachte er seinem Publikum auch immer wieder die Sprachen der ehemaligen Kriegsgegner näher.
Man kann davon ausgehen, dass Vicos Gestaltungsspielraum und sein Einfluss auf den Inhalt seiner Shows und Filme gross war. Das Fernsehen von damals war noch nicht so durchprofessionalisiert wie heute. Die Produzenten von „Der Goldene Schuss“ beispielsweise hiessen Werner und Hannes Schmid, wohnten in Zürich und waren im Hauptberuf Gastronomen und Theaterunternehmer, nach heutigen Massstäben also blutige Amateure. «Der goldene Schuss» wurde eine der erfolgreichsten Unterhaltungsshows in der Geschichte des Deutschen Fernsehens. Die beiden Schmids – sie waren übrigens trotz des gleichen Namens nicht miteinander verwandt – haben sie von Zürich aus für das ZDF produziert. Heute wäre so etwas vollkommen undenkbar.
Erfolg und Ablehnung
Vicos Karriere blieb immer zwiespältig. Sein Erfolg in Deutschland war riesig. TV-Shows wie «Der Goldene Schuss» waren regelrechte Strassenfeger und erreichten traumhafte Zuschauerquoten von 80% und mehr. Am 25. August 1967 war es Vico Torriani, der mit dieser Show, live gesendet aus der Internationalen Funkausstellung Berlin, die Ära des Farbfernsehens in Deutschland eröffnet hat. Wenn wieder einer seiner Schlagerfilme in die Kinos kam, wurde der zwar von der Kritik regelmässig als «seichte Schnulze» verhöhnt, doch die Menschen stürmten die Kinokassen. In Berlin sollen sie sogar weit um den Block herum Schlange gestanden sein, um eine Karte zu ergattern. Und natürlich verkauften sich Vicos Platten millionenfach, Schlager wie „Sieben Mal in der Woche“ kannte jeder, es waren Gassenhauer.
In seiner Heimat jedoch fremdelte man mit dem wahrscheinlich quotenstärksten Botschafter für das Urlaubsland Schweiz. So polyglott Vico auf der einen Seite war, so wenig anerkannte man ihn hierzulande als «einen von uns». Den Bündnern war er vielleicht zu deutsch, obwohl er mit «Buna not dorma bain» wahrscheinlich den ersten überregionalen romanischen Hit landete. Zu einer Zeit, als man in Deutschland noch nie von einer Sprache namens Rätoromanisch gehört hatte, war er damit ziemlich sicher auch einer der ersten Botschafter unserer Bündner Sprachminderheit. Trotzdem hatte er es schwer in der Schweiz, nicht nur in Graubünden. Vielleicht war es der Stallgeruch des ungebildeten Unterschichten-Buben aus dem Oberengadin, den er nie ganz loswurde. Vielleicht führte der grosse Erfolg im Ausland auch zu einer Abwehrreaktion des heimischen Publikums. Bis heute kann man diese Ambivalenz spüren, wenn man mit Wegbegleitern und Zeitgenossen spricht.
Als dann die angloamerikanische Unterhaltungsmusik ihren Siegeszug antrat, wurden Schlager immer mehr aus den Hitparaden verdrängt. Vico war plötzlich verschrien als Schnulzenkönig. Es sollen sogar Stinkbomben in seinen Konzerten gelandet sein. Gleichzeitig – auch das gehörte zu den mächtigen Widersprüchen in Vicos Karriere – füllte er in der damaligen Sowjetunion ganze Stadien und wurde frenetisch als «King of Rock’n’Roll» gefeiert. Sogar in Persien ist er aufgetreten, auf Einladung des Schahs, den er in St. Moritz persönlich kennengelernt hatte. Zur Begrüssung des persischen Publikums soll er sich ein paar Sätze in der Landessprache antrainiert haben. Für Vico war das vermutlich eine Selbstverständlichkeit. Schon als kleiner Junge in St.Moritz musste er lernen, dass nur weiterkommt, wer sich anpassen kann.
Vico kam aus Celerina hinter den sieben Bergen; als quasi-Strassenkind stand er dort auf der sozialen Leiter ganz unten. Als Teenager hatte Vico eine Bäckerlehre in St. Moritz gemacht und wurde von einem strengen Lehrmeister drangsaliert. Peter Alexander hingegen, der in seiner Wirkung am ehesten mit Vico vergleichbar ist, kam aus einer angesehenen Wiener Familie, hatte eine standesgemässe Schulbildung genossen und mit dem Wiener Max-Reinhardt-Seminar auch eine der renommiertesten Schauspielschulen besucht. Vor diesem Hintergrund ist Vicos Karriere mehr als erstaunlich.
Seine Stimme, seine Musikalität, seine Ausstrahlung und die Gunst der Zeit machten diese Kariere möglich, in besonderem Mass aber sicher auch seine Anpassungsfähigkeit. Vico Torriani musste spät lernen, wie man sich auf dem Parkett der Erfolgreichen bewegt – und blieb dort sein Leben lang sicher auch ein wenig fremd. Als gegen Ende der Siebziger seine Erfolge weniger wurden, passte er sich den veränderten Gegebenheiten an und erfand sich mit volkstümlichen Melodien neu. Heute ist er den meisten als Schlagersänger in Erinnerung, der in volkstümlichen Musiksendungen etwas steif „La Montanara“ und „La Pastorella“ zum Besten gab. Das war bereits weit entfernt von der Grandezza seiner frühen Jahre.
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Der unverwechselbare Sound der Tiroler Volksmusik
Weggefährten wie Peter Alexander oder Caterina Valente haben sich irgendwann aus dem Showbusiness verabschiedet; sie blieben in Erinnerung, wie sie in ihren besten Jahren waren. Andere – wie beispielsweise die «Rolling Stones» - tun mit Mitte Siebzig immer noch genau das, was sie mit Anfang Zwanzig bereits gemacht haben: Sie turnen über Stadion-Bühnen mit ihrem Mix aus exzessivem R’n’B und (nicht mehr ganz so) androgynem Sex. Damit bleiben sie sich selber treu, selbst wenn die Öffentlichkeit sie nun als Vorbilder für Fitness im Alter wahrnimmt. Vico hingegen verwandelte sich weiter.
In Österreich folgte er dem Angebot eines Musikproduzenten und widmete sich mit seinem Talent zur Anpassung dem unverwechselbaren Sound der Tiroler Volksmusik. Der entsprechende Zungenschlag blieb zwar dezent, aber er ist in den Aufnahmen von damals hörbar. Auch als Botschafter von Tiroler Alpen- und Hütten-Frohsinn hatte Vico Erfolg und erreichte damit nochmals ein neues Publikum. Er sang, was man ihm zu singen gab, und er tat es, wie er es immer gemacht hatte: Mit seiner ganzen Professionalität, seinem Talent, seiner Musikalität, seiner Stimme - so gut er nur konnte. Doch diesmal war es nah an einer Selbstverleugnung.
Dass er in jener Zeit immer weniger eins war mit sich selber, bezeugt folgende Episode, die mir ein bekannter Schweizer Liedermacher erzählt hat: Irgendwann in den 80erjahren soll Vico zahlreiche Schweizer Musiker und Unterhaltungsgrössen zu sich in sein Haus in Agno/TI eingeladen haben. Offenbar wollte er am Ende seiner Karriere etwas loswerden: Er sei, verkündete er seinen Gästen, nicht einverstanden mit dem, was das Fernsehen und die Unterhaltungsindustrie aus ihm gemacht haben.
Am Ende seines Lebens sah der anpassungsfähige Bub aus dem Oberengadin sich nicht mehr als Kapitän auf einem Schiff namens Vico, sondern nur noch als Steuermann, der selber nichts entscheiden durfte, sondern immer nur die Strecke fuhr, die man ihm vorgegeben hatte.