Mehrsprachigkeit als ästhetische Herausforderung

Dass Mehrsprachigkeit eine gesellschaftliche und politische Herausforderung ist, wird jedem Individuum bewusst, das sich heute auf irgendeinem Kontinent durch irgendein Land, einen Staat, eine Nation bewegt. Als Individuen erfahren die allermeisten Erdenbürgerinnen und Erdenbürger zudem, dass Mehrsprachigkeit auch eine permanente Überlebensstrategie, ja eine geradezu existentielle Zumutung und Herausforderung ist. Schon immer gab es erzwungene und freiwillige Migrationen, welche die Menschen darüber belehrten, dass man anderswo anders spricht und dass es guten Willen, Eifer, Anstrengung und Anpassungsvermögen braucht, sofern man Anderssprechende einigermassen hinreichend verstehen, mit ihnen handeln und sich an einem Ort auf der Welt friedlich einrichten will. Zivilisation bedeutet immer schon nichts mehr und nichts weniger, als sich mit Anderslebenden, Andersdenkenden und Anderssprechenden zu arrangieren und gegenseitig zu verständigen.

Foto aus Wikipedia

Man braucht in Graubünden und in der Schweiz nicht daran zu erinnern, dass Mehrsprachigkeit nicht nur als ein Segen kultureller Vielfalt wahrgenommen wird, sondern vielen auch als eine belastende Zumutung erscheint. In meiner Zeit als Sekretär der Lia Rumantscha in den späten 70-er Jahren erhielt ich einmal einen anonymen Brief zugeschickt, darin zu lesen stand: «Romontsch ei miarda! Adina mo buordi e disgust! Calei cun quei!» Der dem Rätoromanischen nicht gerade wohlgesinnte Schreiber tat wortstark kund, was diese Sprache ihm bedeute: sie sei unnütz, eine Last, ihm geradezu ekelhaft zuwider. Von den für die Spracherhaltung Tätigen verlangte er, dass man deren Förderung einstelle. Heute, da die Zweisprachigkeit in rätoromanischen Gemeinden geradezu bereits eine Art «Naturzustand» ist, wird man dieser Totalablehnung einer Minderheitensprache wohl kaum mehr begegnen. Die herrschende Devise lautet vorteilhafterweise inzwischen: «Tgi che sa rumantsch sa dapli», auch wenn dieser «Mehrwert» multipler Sprachkompetenz nicht von allen gleich hoch eingeschätzt werden dürfte.

Es bleibt eine permanente pädagogische Herausforderung unserer kantonalen Schulsysteme, die Zumutbarkeit komplexer mehrsprachiger Gegebenheiten im Lernprozess auf verschiedenen Altersstufen zu überprüfen, zu testen und anzupassen. Jedenfalls darf man sagen, dass die «gelebte Mehrsprachigkeit», wie diese an der Pädagogischen Hochschule Graubünden praktiziert wird, ein vielversprechender Ansatz ist, um dieser Komplexität gerecht zu werden und die Sprachsituation nicht vorschnell dem Bequemlichkeitsprinzip zu opfern. Es bleiben für jeden Lernwilligen immer wieder neu zu stellende und zu klärende Fragen: Wieviel sprachliche Komplexität ist zumutbar und förderlich? Wo und unter welchen Bedingungen wird sprachliche Komplexität zur hemmenden Bürde und Last? 

 

Lieblingwörter als Ausgangspunkt

 

Ich habe heute aber nicht die politischen, gesellschaftlichen und schulischen Herausforderungen der Mehrsprachigkeit im Fokus, sondern das, was man die «ästhetischen Aspekte der Mehrsprachigkeit» nennen könnte. Immer schon hatte zu gelten, dass letztlich alles in andere Sprachen übertragbar ist und sein muss, wenn auch nicht ohne Verluste, Bedeutungsverschiebungen, Neu-Kontextualisierungen und ganz gewiss nicht ohne drohende Missverständnisse. Bei den ästhetischen Herausforderungen geht es insbesondere um jene Verluste, die wir an nicht gänzlich befriedigenden Übertragungen empfinden. Jeder sensible und bewusste «native speaker» kennt Lieblingswörter aus seiner angestammten oder ihm aufgrund der eigenen Lebensumstände vertrautesten Sprache, für die er in noch so reichen anderen und später hinzu erworbenen Sprachen keine zufriedenstellenden gleichwertigen Wörter und Begriffe findet. Für diese muss man zu Umschreibungen oder zu ganzen Wortgeschichten greifen, um den Zauber, die eigentliche Magie eines einzelnen Wortes zu erfassen. Lassen Sie mich dies an zwei Beispielen aus meiner Kinder- und Jugendsprache erläutern.

 

Ich bin in Graubünden in der Surselva aufgewachsen, wo man nach wie vor als Umgangssprache eines der bündnerromanischen Idiome verwendet, das «sursilvan». Ein Wort, das mir seit frühester Jugend ans Herz gewachsen ist, lautet «bufatg». Etymologisch geht es auf das lateinische Kompositum «bene factum» - also «gut gemacht» zurück. Verwendet wird es heute umgangssprachlich in den Bedeutungen «leise, sachte, sanft». «Fai bufatg» bedeutet also: «Tue es mit Vorsicht, mit Achtsamkeit, friedfertig, leise, diskret». Am anderen Ende des Bedeutungsspektrums steht der Grobian, der Schreier, der Ungehobelte, der Freche. Ein Mensch, der «bufatg» sein will, ist zwar kein Leisetreter, aber umsichtig will er sein, die anderen schonen statt sie zu bedrängen. Er will respektvoll staunen, statt auftrumpfen und austeilen. Der surselvische Autor Giachen Hasper Muoth beschreibt in seinen humoristischen Anleitungen über die wahre Kunst eines Mannes, sich beim Tanzen zu benehmen: Der Kandidat setzte seiner Partnerin «bufatg» den Arm auf den Rücken, also sachte, schonungsvoll, mit Takt und Delikatesse. All dies verbirgt sich hinter einem Wort, das für eine Welt gedacht ist, in welcher es oft genug unzimperlich, grob, ruchlos und tölpelhaft zuging. Ein Bauer war zwar ein Bauer, doch wenn dieser mit Mensch und Tier und mit der ganzen Schöpfung «bufatg» umging, war er doch zehnmal der vornehmere als ein polterndes Grossstadtmaul. Ich lernte in späteren Jahren einen Lehrer kennen, den ich «il scolast bufatg» nannte. Es gibt keinen besser geeigneten Lehrer als einen, der mit einer staunenden Kinderschar «bufatg» umzugehen versteht.

 

Ein zweites, für mich magisch schönes Wort aus meiner surselvischen Muttersprache lautet «cupidar». Will jemand einen „cupid“ machen, so heisst das nicht, er habe ein Rendez-vous mit Cupido, sondern mit einem ganz anderen göttlichen Wesen: mit Morpheus, dem Sohn des Schlafes. Morpheus ist der Gott, der uns in seine Arme schliesst und ins Land der Träume befördert. Denn „cupidar“ bedeutet nicht einfach schlafen. Es ist eher das leise „Überschreiten der Schwelle zum Reich des Schlafes.“

 

Lange haben die Philologen sich gefragt, woher dieser Ausdruck stamme, der im ganzen rätoromanischen Gebiet und ebenso in der Mesolcina und im Tessin anzutreffen ist. Ihre etymologische Diagnose ist schlicht: von unbekannter Herkunft. Eine Hypothese lautet, dass hinter unserem „cupidar“ sich ein „*cupp-itare“ verberge. Dabei wäre „cuppa“ der Kopf, „itare“ ein Iterativ, welches wiederholte Bewegung anzeige. Zusammen gäbe dies so etwas wie: den Kopf sinken lassen und den Kopf wieder heben. Eben das, was jene tun, welche die Gabe haben, beinah überall einzunicken. Wer selbstvergessen schlafend wegdriftet, ist damit meistens auch hinlänglich weit vom Liebesgott Cupido abgerückt. – Die Italiener mit ihrem „pisolino“ (Nickerchen) sind diesbezüglich unsere Verwandten. Auch dieses Wort geht zurück auf die etwas indiskrete Beobachtung, dass der Kopf wie ein Anhängsel (das alte Wort „pésolo“) am Körper eines im Sitzen Schlafenden baumelt.

 

Die Beobachtung, wie ein Mensch in den Schlaf fällt, ist für fremde Augen nicht immer ein erbaulicher Anblick, selbst wenn man einem Mitmenschen seinen Schlaf von Herzen gönnt. Das Wort selbst aber geniesst bei den rätoromanischen Dichtern eine hohe Beliebtheit. Es gehört zum festen Bestand zumal der sentimentalen Lyrik. In einem Gedicht, in welchem das Wort „cupidar“ fehlt, ist die Welt nicht ganz perfekt. Darum muss alles träumend einnicken, der Brunnen, das Licht, das Echo, der Tag und weiss ich alles was. Selbst Gewitter, die ansonsten laut lärmen und rumpeln, müssen gelegentlich einnicken. „Leu vid ils precipezis / cupidan ils urezis – Dort an den Felsenklüften / nicken Gewitter schlafend vor sich hin“ – schreibt der grosse Muoth. Man könnte zur Überzeugung kommen, die rätoromanische Lyrik sei überaus schlafbefangen.

 

Zum Glück revoltiert die Poesie manchmal gegen die Etymologie. Andri Peer schreibt in einem Gedicht seiner Sammlung „Sömmis – Träume“: „I dà odours chi branclan e charezzan / sco bratscha da marusas cupidadas. – Gerüche gibt es, die uns liebkosend umfangen, / wie die Arme von im Schlaftraum befangenen Geliebten.“ Ist es nicht bemerkenswert, wie sich hier Cupido diskret durch die Hintertüre des Gedichts einschleicht, um uns daran zu erinnern, dass nur jener Schlaf wirklich schön ist, bei dem wir auch dem Liebesgott Tribut zahlen?

 

Über solche Geschichten um Lieblingswörter und Lieblingsworte kann man ins Sinnieren kommen, weil ein jeder über seine eigenen verfügt. In jeder Biographie wird es eine meist durch sehr persönliche Erfahrungen geprägte Anzahl von Lieblingswörtern geben. Darum sind individuelle Sprachbiographien die wichtigsten Quellen für die Entdeckung der ästhetischen Dilemmata von Mehrsprachigkeit. 

 

Auch dafür füge ich hier ein Beispiel an. Wenn auch jedes Individuum die eigene unverwechselbare Sprachbiographie hat, ist diese doch nicht bei jedem gleich dramatisch, wechselhaft und traumatisch. Ich wähle hier das Leben des israelischen Schriftstellers Aharon Appelfeld (1932-2018), der sein «Sprachschicksal» in seinem Buch «Geschichte eines Lebens» auf unvergessliche Art und Weise geschildert hat.

 

Aharon Appelfeld ist in Jadova im damaligen Königreich Rumänien (heute Ukraine) geboren und hat in der Stadt Czernowitz seine ersten Jugendjahre verbracht. Seine Eltern sprachen Deutsch mit ihm, seine Grosseltern Jiddisch, mit dem Hauspersonal und mit der unmittelbaren Umgebung sprach man rumänisch oder ukrainisch. Als die deutschen Nationalsozialisten ihren Judenhass auch in den osteuropäischen Gebieten politisch durchsetzten, begannen für die osteuropäischen Juden – ob arm oder reich – die Verfolgungs- und Vernichtungsjahre. Aharons Mutter wurde von rumänischen Antisemiten ermordet, der Sohn gemeinsam mit dem Vater in ein Zwangsarbeitslager nach Transnistrien deportiert. Aus dem Lager gelang dem Sohn die Flucht, er schaffte es, seine jüdische Herkunft zu verbergen und bei rumänischen und ukrainischen Bauern unterzutauchen und Gelegenheitsarbeiten zu finden. Als im Jahr 1944 die Rote Armee anrückte, schloss er sich als Küchenjunge den nach Westen vordringen Truppen an. In einer Flüchtlingsgruppe erreichte Appelfeld 1946 Italien und schaffte es dort, ein Schiff nach Palästina zu erreichen, wo er im damaligen britischen Protektorat auch ankam.

 

In Appelfelds «Geschichte eines Lebens» (publiziert in hebräischer Sprache 1999) lesen wir über die Jahre in Czernowitz: «Vier Sprachen umgaben uns, lebten in uns auf merkwürdige Weise zusammen und ergänzten sich. Wenn du deutsch sprachst und dir ein Wort, ein Ausdruck oder eine Redensart nicht einfiel, behalfst du dich mit Jiddisch oder Ruthenisch (Ukrainisch). Vergeblich versuchten meine Eltern, mein Deutsch rein zu halten. Die Wörter aus den uns umgebenden vier Sprachen flogen uns zu, ohne dass wir es merkten, und bildeten ein Sprachengemisch, das ungeheuer reich an Schattierungen, Gegensätzen, Humor und Ironie war. In dieser Sprache gab es viel Raum für Empfindungen, feinste Gefühlsnuancen, für Phantasie und Erinnerung. Heute leben diese Sprachen nicht mehr in mir, doch ich spüre ihre Wurzeln. Manchmal genügt ein Wort, um wie mit einem Zauberspruch Bilder, ja Szenen wachzurufen.»

 

Für den 14-jährigen Aharon Appelfeld - wie für alle der Shoah entkommene und in Palästina eine neue Heimat findende Juden – galt es nun aber, eine neue Sprache, die offizielle Sprache des 1948 entstandenen Staates Israel, zu erlernen: das Hebräische. Niemand schildert eindrücklicher als Appelfeld, wie hart, lang und schwierig für den Halbwüchsigen und jungen Erwachsenen dieser Lernprozess war, bis aus einer mangelhaft beherrschten und gehassten Sprache der Befehle, des Zwanges und der puren Überlebensnotwendigkeit allmählich eine der Verständigung, der Einfühlung und der Anteilnahme entstehen konnte: Kurzum: eine neue Sprache auch des Herzens, in welcher sich Appelfeld seinen neuen Zeitgenossen und israelischen Schicksalsgenossen verständlich zu machen und zu öffnen vermochte. Im 18. Kapitel seiner Lebensgeschichte können wir nachlesen, wie aus einem Leben der Einsamkeit und Fremde allmählich der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld sich entfaltete. Geholfen haben ihm dabei befreundete jiddische Schriftsteller, die des Hebräischen kundig und dieser Sprache nach und nach auch mächtig wurden. Appelfeld gelang es, die Geheimnisse seiner beinah verlorenen Sprachen in die Wirklichkeit eines alltäglichen und auch literarisch aufblühenden Hebräisch hineinzuholen. Er fand – durch Horchen und Ausloten der Sprachmelodie und der Sinnebenen der Wörter verlorener Sprachen aus einem mechanistischen Verständnis von Sprache zu einer intimen und sogar poetisch aktiven Verwendung seiner komplexen Mehrsprachigkeit, das Hebräische nunmehr als seine Hauptsprache verwendend. «Erst Mitte der fünfziger Jahre fliessen die Sätze aus einem Guss und auf Hebräisch.» heisst es im Buch. «Am meisten kämpfte ich darum, die neue Sprache zu erwerben und als Muttersprache anzunehmen. Schon früh, noch bevor ich wusste, dass sich mein Schicksal in Richtung Literatur lenken sollte, flüsterte mir der Instinkt zu, dass mein Leben ohne die intime Kenntnis dieser Sprache vordergründig und seicht sein wollte.»

 

Dass nicht jeder von uns eine so komplexe Genese der eigenen Mehrsprachigkeit durchzustehen hat, kommt den allermeisten zugute. Wir richten uns alle einigermassen ein in der vom Leben uns zugemuteten Sprachsituation. Die Forschung zum Phänomen der Mehrsprachigkeit als einer unübersehbar gegebenen Realität in individueller und kollektiver Ausprägung hat sich inzwischen vieler der sich hier stellenden Fragen angenommen. Was bedeutet es, multilingual aufzuwachsen in phänomenologischer, psychologischer, didaktischer oder gar medizinisch-pathologischer Hinsicht? Man spricht heute von «Multiliterarität», von «translanguaging», von «translokalen Sprachbiographien», man analysiert alltägliche Ereignisse wie Sprachwechsel und Sprachverlust als zumutbare Normalvorgänge zum Erwerb von Lebensressourcen und als Chancenpotential einerseits, als Störungsfaktoren und psychische Belastungen andererseits. Auf linguistischer und literarischer Basis werden innersprachliche Phänomene untersucht, wo fremdsprachliche Elemente sich mit herkunftssprachlichen Gegebenheiten vermengen und vermischen. Man hat heute ein besonders Gehör für das, was im angelsächsischen Raum «language attrition» heisst – den Sprachschwund und die Reibungsverluste durch das Eindringen und die Präsenz fremder Sprachelemente im eigenen «Sprachgebrauch». «Languages in contact» nannte der Linguist Uriel Weinreich (1926-1967) seine grundsätzlichen Studien zur «Sprachkontakt-Forschung» bereits in den 50-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Seither ist in theoretischer und didaktisch-pragmatischer Hinsicht viel passiert, um «Das Eigene und das Fremde» in unserem Sprachverhalten als eine natürliche Gegebenheit zu begreifen, zu akzeptieren und damit umzugehen lernen.

 

Wo es freilich um ästhetische und stilistische Aspekte der Mehrsprachigkeit geht, wendet sich der Blick notwendigerweise jenen Phänomenen zu, die weniger mit Schwund und Verlust zu tun haben, sondern eher mit Erneuerung, Erweiterung und Bereicherung der Schreibkunst durch Kontakte mit und durch Einflüsse von fremden Sprachen. Im Jahr 2016 legte der Grazer Romanist und Komparatist Werner Helmich eine breitangelegte Studie mit dem Titel «Ästhetik der Mehrsprachigkeit» vor, in welcher er sich vor allem mit dem Phänomen des «Sprachwechsels» in den romanischen und deutschsprachigen Literaturen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzte. Die Studie umfasst alle literarischen Gattungen von Erzählwerken, Romanen, Erinnerungsschriften, Theaterstücken bis zur Lyrik und zum Essay und untersucht «mischsprachliche» Phänomene in bedeutenden literarischen Werken Frankreichs, Spaniens und Deutschlands, aber auch des südamerikanischen Kontinents. Das Buch ist ein grossartiges Kompendium zum Verständnis von «Pluri-Literarizität» und der beinah unendlich scheinenden Arten von Interaktionen zwischen den Sprachen in literarischen Kunstwerken und Dokumentationen. In einem einleitenden Kapitel zur Vorgeschichte des Fremden in den nationalen Literaturen erkennen wir, dass wir es hier nicht mit einem «neuen» Phänomen zu tun haben, sondern dass die Nationalliteraturen seit Jahrhunderten tief geprägt sind durch längst vorhandene und neu hinzukommende Bestandteile fremder Sprachen und Kulturen. Jedes etymologische Wörterbuch klärt uns schlagartig darüber auf, wie viel Wortgut im Verlauf der Geschichte deklariert und geschmuggelt über die Sprachgrenzen hinein es schaffte, sich in fremden Territorien festzusetzen und auszubreiten.

 

Zwar ist auch das Prinzip der «puritas», also der Sprachreinheit, Authentizität und Originalität jeder einzelnen Sprache ein ästhetisches Orientierungsprinzip für Schreibende, doch lässt sich mit fremden Elementen in der eigenen Sprache auf vielfältigste Art und Weise spielen und tändeln. Schon in griechischen und lateinischen Komödien treiben die Schriftsteller ihre Scherze mit «Polyglossien», wenn sie die Thebaner anders als die Athener, die Sizilianer anders als die Römer sprechen lassen. Mit sogenannten «Barbaro-Lexien» kann man die schönsten Lacherfolge erzielen. Dante «garniert» seine «Vita nuova» und seine Gesänge des «Paradiso» reichlich mit lateinischen Zitaten, so wie es später auch Montaigne noch in seinen «Essais» tun wird. Sogenannte «testi mistilingui» sind äusserst beliebt in den Trinkliedern der Studenden seit dem Mittelalter, wie wir es etwa aus den «Carmina burana» wissen. In der Zeit von Humanismus und Renaissance entstehen literarische Gattungen, welche die Mehrsprachigkeit als Gelehrtenprosa geradezu feiern. In der «commedia dell’arte» gehört es später zu den festen Publikumserwartungen, dass der Pantalone aus Venedig anders spricht als der Zanni aus Bergamo und der Dottore aus Bologna. Und wer in einer Komödie als «Capitano» auftritt, muss durch seine Sprechweise kundtun, dass er in spanischen oder portugiesischen Diensten seine «Verdienste» geholt hat. Auch in Gauner- und Dirnenmilieus begegnet man einer Vorliebe der jeweiligen Autoren für sprachliche «Weltläufigkeit». Noch Lorenzo da Ponte lässt in Mozarts «Cosi fan tutte» seine als Arzt verkleidete Despina in barbarischer Vielsprachigkeit ihre Kompetenz in medizinischer Wissenschaft bekunden. Pseudogelehrsamkeit lässt sich auf der Bühne wundervoll bis in die Barockzeit hinein mehrsprachlich karikieren, so etwa, wenn die vorgeschlagene Therapie eines Schülers der Medizin am Krankenbett stereotyp lautet: «Clysterium donare, postea seignare, ensuita purgare!»  Bis in Schriften unserer Gegenwart hat das Spiel mit der Diglossie eine bedeutende ästhetische Funktion, wenn wir etwa bedenken, wie gekonnt Andrea Camilleri in seinen Montalbano-Krimis sein Sizilianisch in die italienische Standardsprache einfliessen lässt. Oder - um ganz in der Nähe zu bleiben - welche Scherze und Spiele heute Leo Tuor und Arno Camenisch in ihren Schriften treiben, wenn es um die Diglossie von Surselvisch und Schweizerdeutsch in der Umgangssprache in den heutigen bündnerromanischen Dörfern geht. Da wird der exzessive Hinweis auf Diglossie geradezu zur literarischen Strategie – so wie es in anderen Teilen der Welt in den kreolischen Literaturen zu beobachten ist. Dass «Polyglossie» für die ästhetische Qualität und für stilistische Originalität in der Literatur da und dort zu einer Falle werden kann, in die man spielfreudig und leichtsinnig hineintappen kann, wollen wir allerdings nicht ganz übersehen.

 

Eine ästhetisch orientierte Weltanschauung erfordert, dass gerade im sprachlichen Bereich alle Elemente sprachlicher Schönheitserzeugung zur Darstellung kommen, insbesondere auch dort, wo mehrere Sprachen im Spiel sind. Allerdings sind ästhetische Wirkungen in einem Text durch die verschiedensten Einsatzmittel zu erreichen: Durch Kontraste und Oppositionen, durch opulente Festlichkeit und treffsichere Knappheit, durch semantische Doppelsinnigkeit, Witz und Ironie, durch virtuose Wortverwendung so sehr wie durch die Erzeugung von Erhabenheit und Unermesslichkeit im Lesenden. Jede Art der Sprachverwendung kann als Auslöser eines in der Sprache angelegten Schönheitspotentials eingesetzt werden. Es gibt nichts, auf das sich kein Gedicht machen liesse, in ernster oder in komischer Absicht, um das Beglückendste und um das Schrecklichste erfahrbar zu machen. 

 

An einem konkreten Beispiel möchte ich abschliessend die semantischen, ästhetischen und stilistischen Herausforderungen der Mehrsprachigkeit illustrieren. Da es konkret um «Sprache» und um «Sprachen» geht, wähle ich hier als ein am Sprechen beteiligtes Organ die Lippen. Als Eingang dazu lese ich einen kleinen Text vor, den ich – über ein weiteres meiner Lieblingswörter aus dem Surselvischen nachsinnend – vor Jahren einmal schrieb:

 

Lippen, Lefzen oder «babellas»?

 

Man erzählt, Goethe habe trotz all seiner Macht und seines Einflusses jahrelang versucht, das ihm für das zierliche Tier hässlich scheinende deutsche Wort «Eidechse» mit dem sonniger und südlicher wirkenden Ausdruck «Lazerte» zu ersetzen. Letzteres schien ihm unvergleichlich zutreffender, denn hinter dem lateinischen Wort «lacerta» und dem italienischen «lucertola» » schien ihm mediterranes Licht – «luce» - hervor zu leuchten, im Gegensatz zum germanischen Ungetüm «Echse», das aus dunklen Höhlen und tiefen Erdritzen zu stammen schien. Wir Bündnerromanen nennen das zierliche Tier in der Surselva «luschard», die Engadiner «lütscherna» oder «lintscherna», was eine seltsame Ambivalenz zwischen einem Lichtträger und einen «Lindwurm» nahelegt. So gibt es in jeder Sprache von Wort zu Wort gelegentlich sehr sympathische und gelegentlich weniger gefällige Assoziationen, die wir in unserer Vorstellung mit einem Ausdruck verbinden.

 

Als ein in der Surselva geborener Sprecher leide ich unter einer sprachlichen Entwicklung, die dazu führte, dass wir für das zu höchst wesentlichen Dingen notwendige Körperteil «die Lippen» den Ausdruck «las lefzas» benützen. Es ist schliesslich ja jenes Organ, das uns beim Sprechen, Essen und Küssen die angenehmsten sinnlichen Erfahrungen beschert. Die Engadiner sind eleganter und sprechen von «ils lefs» oder «ils leivs». Das hat zumindest eine gewisse Anmut in Klang und Laut. Es war Luthers Bibel, die, wo es sich um menschliche Wesen handelte, die tierischen Lefzen mit dem Wort «Lippen» ersetzte. Im Deutschen braucht man das Wort «Lefzen» heute nur noch für wilde und für domestizierte Tiere, wie Löwen, Kühe oder Hunde. In der Surselva wollte man nichts von humanisierenden labialen Reformen und Veredelungen wissen und blieb darum bei den Lefzen. Bis ein grosser Dichter kam und fand, dass Lefzen zu schönen küssenden Mädchen ganz und gar nicht passe und darum in einem Hexameter die «levzas» durch «babellas» ersetzte, indem er schrieb: «In curteseivel salid de quellas babellas amablas – mit einem freundlichen Gruss von diesen reizenden Lippen!» Das Wort «babellas amablas» für Liebesschwüre sprechende und küssende Lippen ist so zauberhaft und beseligend, dass man den halben Tag damit verbringen könnte, es auszusprechen. Schönere Küsse gibt es gar nicht als solche, die von «babellas amablas» kommen!

 

Doch wir Bündner Oberländer sind stur und hartnäckig! Anstatt unserem Dichter zu folgen, haben wir es vorgezogen, mit bestialischen Lefzen weiter zu leben. Der Schriftsteller Gion Deplazes schrieb sogar einen Roman mit Lefzen im Titel: «Levzas petras» nannte er diesen, «Bittere Lippen» also, was allein durch die Tatsache gerechtfertigt bleibt, dass diese Lefzen von Bitternis und Trauer geprägt bleiben. Ich habe einen Fanclub gegründet zur Wiedereinführung und zu Schutz und Verteidigung des Wortes «babellas». Verwenden sollte man es immer dort, wo Lefzen zu beglückenden Lippen werden. Immer noch halte ich im Lande Ausschau nach jenen surselvischen Frauen mit «finas babellas amablas». Die meisten nennen nach wie vor ihre küssenden Lippen barbarisch «levzas». Und so wird es wohl bleiben! Warum sollte ich mit meinen «babellas» mehr Glück haben als Goethe mit seiner «Lazerte»! Es lässt eben jede einzelne Sprache der Welt am Ende Wünsche offen!

 

Soweit mein damaliger Text. Inzwischen habe ich über die angemessenen und die am besten zutreffenden Wörter für unsere Lippen weiter nachgedacht. Da helfen eben nur zwei Dinge: eine funktionelle Betrachtung des Organs und eine mehrsprachliche Orientierung im Hinblick auf die komplexen Lösungen, die in sprachhistorischer Hinsicht gefunden wurden.

 

Die Physiologen sagen, die Lippen seien ein Organ zur Nahrungsaufnahme, ein Tastorgan, ein beim Sprechen und bei der Lautbildung unerlässliches Organ, ein prägender Bestandteil des mimischen Gesamteindrucks, eine erogene Körperzone und zudem ein Signalorgan für Sinnlichkeit und sexuelles Entwicklungspotential. Denken wir daran, dass «Lippenlesen» eine überaus hilfreiche Strategie von Schwerhörigen ist. Dass Lippenbekenntnisse jedoch etwas sind, dem man nicht trauen soll. Und dass wer gerne küsst, ohne Lippen ein Schwerstbehinderter wäre.

 

Die Lateiner sagten zur Lippe «labium», im Plural «labia». So schön und weich, wie es sich für Lippen gehört. Auch «labrum» und «labea» kommen vor, eine besonders zierliche Lippe musste man «labellum» nennen. Die Mönche des Klosters Disentis sangen in ihrem Chorgebet zur Eröffnung eines liturgischen Tages Vers 17 aus Psalm 50: «Domine, labia mea aperies - Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund Deinen Ruhm verkünde.» Das klang schön und weich. Wenn Seneca in seinen «moralischen Briefen» vom Lampenfieber beim Reden in der Öffentlichkeit sprach, verwendete er den Ausdruck «labra concurrunt», das man genau übersetzen müsste mit: «Vor lauter Auftrittsangst stocken die Lippen und schliessen sich, indem sie aufeinander zueilen.» Linguisten nennen heute jene Konsonanten «Labiale», die wir mit unterschiedlichem Einsatz und Stellung der Lippen zu bilden fähig sind – b, p, m -, aber auch die reichen Varianten von «labiodentalen» Lauten wie f und v und pf.

 

Bei den Italienern ergab sich bereits eine interessante Unterscheidung zwischen «labbia» und «labbra». Letzteres ist etwas eher Anatomisches. «Mordersi le labbra» bedeutet soviel wie «sich auf die Lippen beissen», im Sinne von: etwas nicht sagen, offenbaren oder verraten wollen. Danteleser wissen aber, dass bei ihm «labbra» und «labbia» für unterschiedliche Dinge stehen. Wenn es in Inf. XVI,125 heisst: «chiuder le labbra», dann bedeutet dies schlicht und einfach «schweigen». Und die «infiata labbra» von Inf. VII, 7 ist nichts als eine «geschwollene Lippe». Wenn hingegen «labbia» im Text steht, gäbe eine Übersetzung ins Deutsche mit «Lippe» keinen zureichenden Sinn geben. Wenn es in Inf.XIX,121 heisst: «infin ove comincia nostra labbia» kommentieren die Experten: «fino al punto dove comincia la natura umana». «Labbia» steht also für das Gesicht, die menschliche Natur, die Sprachfähgikeit des Menschen. Im Purgatorio (XXII,47) gibt es eine Stelle, wo es um die Wiedererkennung eines Menschen im Jenseits geht. Dante spricht von «la cangiata labbia» und meint, er habe diesen Menschen erkannt trotz seines veränderten Äusseren. Übersetzerinnen und Übersetzer wissen, was für «weite Felder» sich im Bedeutungsreich eines einzelnen Wortes wie «labbia» ausdehnen können. Auch bei den Bündnerromanen ist diese Bedeutungsvielfalt des Wortes «lef» erhalten geblieben. Wenn es in einer Erzählung von Clà Biert heisst: «Menin faiva ün leffun» - wörtlich übersetzt: Menin machte eine «grosse Lippe» bedeutet dies: er verzog sein Gesicht, machte eine ungnädige Miene, schmollte und war unzufrieden.

 

Wenn es um die Lippen als Voraussetzung zum Küssen geht, gibt es ergiebigere und weniger ergiebige Sprachen. Es hängt dies alles ja auch mit der Weltverhaltensregel zusammen: «Man tut es zwar, aber man spricht nicht darüber!» Die Kussgedichte der bündnerromanischen Literatur haben eher Seltenheitswert, während beispielsweise die deutsche Barockzeit aus den Kusskünsten der Lippen schönste Gedichte zauberte. Eines der Kuss- und Lippengedichte, das in seiner Art hinreissend unnachahmlich ist, schrieb Eduard Mörike. Sein Titel lautet:  «Nimmersatte Liebe».

 

So ist die Lieb! So ist die Lieb!

Mit Küssen nicht zu stillen:

Wer ist der Tor und will ein Sieb

Mit eitel Wasser füllen?

Und schöpfst du an die tausend Jahr,

Und küssest ewig, ewig gar,

Du tust ihr nie zu Willen.

 

Die Lieb, die Lieb hat alle Stund

Neu wunderlich Gelüsten;

Wir bissen uns die Lippen wund,

Da wir uns heute küssten.

Das Mädchen hielt in guter Ruh,

Wie's Lämmlein unterm Messer;

Ihr Auge bat: nur immer zu,

Je weher, desto besser!

 

So ist die Lieb, und war auch so,

Wie lang es Liebe gibt,

Und anders war Herr Salomo,

Der Weise, nicht verliebt.

 

Wer dieses Gedicht beispielsweise ins Surselvische kunstvoll übertragen möchte, stünde vor gewaltigen, beinah unlösbaren Herausforderungen! Der Wort- und Erzählkünstler Flaubert soll behauptet haben, dass zwei schöne Lippen mehr wert seien als alle Beredsamkeit der Welt. Solange wir uns aber mit Sprachen und mit Literaturen beschäftigen, dürfen wir uns nicht mit real küssenden Lippen allein bescheiden. Es bleibt zwar eine ungeahnt starke Motivation, sich in einen Menschen zu verlieben, um mit diesem zusammen die Schönheiten und Eigenheiten, den Reichtum und die Vielfalt einer lebenden Sprache zu erobern. Denn es ist nicht gleichgültig, was den Menschen an Lauten und an Worten in ihren Lebenstagen und Nächten über die Lippen kommt. Jede Sprache hat ihren Zauber, ihre eigene Schönheit, ihre erst auszulotenden Rätsel.

 

Um nichts anderes als um diese verborgenen, aber durchaus zu entdeckenden Schätze geht es bei den ästhetischen Herausforderungen der Mehr- und der Vielsprachigkeit. Mystiker und Kabbalisten haben Spekulationen darüber angestellt, welche Sprache Gott mit sich selber und mit seinen Engeln spreche, wenn er all das zu begreifen suche, was seine Geschöpfe mit der von ihm geschaffenen Welt alles anrichten und tun. Allein die Sprache der Bibel und der Gesetzestafeln könne es ja nicht sein! - Man darf sich Gott darum wohl nur als ein polyglottes Wesen denken. Er wird schon gewusst haben, warum er die Menschen den Turm von Babel bauen liess. Und ganz gewiss wollte er das Lob ihm zu Ruhm und Ehre, das wir ihm singen sollen, nicht nur in einer Sprache hören!

 

Danke, dass Sie mir zugehört haben.

 

Zitierte Literatur

Appelfeld Aharon, Geschichte eines Lebens, Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2006.

Borst Arno, Der Turmbau zu Babel, Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, dtv, München 1995.

Busch Brigitta, Mehrsprachigkeit, utb., Facultas, 2. Auflage, Wien 2017.

Helmich Werner, Ästhetik der Mehrsprachigkeit, Zum Sprachwechsel in der neueren romanischen und deutschen Literatur, Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2016.

Steiner George, Nach Babel, Aspekte der Sprache und des Übersetzens, 2. Auflage, stw, Frankfurt 2004.

Weinreich Uriel, Languages in Contact, Findings and problems,Publications of the Linguistic Circle of New York 1, New York 1953; Mouton, Den Haag 1963. – Deutsch: Sprachen in Kontakt. Ergebnisse und Probleme der Zweisprachigkeitsforschung,Beck'sche Elementarbücher, München 1976.

Wölke Alexandra, Mehrsprachigkeit, hrsg. von Johannes Diekhans in der Reihe «EinFachDeutsch», Westermann Gruppe, Schöningh Schulbuchverlag, Paderborn 2015.

 

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