Flavia Hobi
1 Theorie zur Identität und Sprache
In meiner Masterarbeit wird Identität nicht als etwas Statisches verstanden, sondern als resultierend aus der Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft sowie den damit verbundenen Kategorien und somit als etwas, das sich andauernd neu herstellt. Wie Identität zeigt sich auch Sprache als eine Form des Ausdrucks, hervorgebracht aus den Interaktionen von Individuum und Gesellschaft. Sprache ist demnach ebenso veränderbar.
Als äusserst zentral erweist sich, dass Identitätskonstruktion als Verinnerlichungsprozess von Gesellschaft, Identität und Wirklichkeit betrachtet wird (vgl. Berger & Luckmann, 2000). Keupp beschreibt Identität als Passungs- und Verknüpfungsarbeit, die sich zwischen einer inneren und äusseren Welt abspielt, wobei Prozesse der Pluralisierung sowie der Individualisierung zu beachten sind. Weiter wichtig zu erwähnen ist die Tatsache, dass sich die Räume, in welchen Identitätsarbeit erfolgt, durch Macht charakterisieren (vgl. Keupp, 2004; 2013). Auch Kresic versteht Identität als aktiven Prozess, der durch die Interaktionen des Individuums mit der Gesellschaft ausgelöst wird. Präsentiert wird dies durch das Modell der multiplen Sprachidentität (siehe Abb. I).
Abb. I: Kresic, M. (2006). Sprache, Sprechen und Identität. Studien zur sprachlich-medialen Konstruktion des Selbst (S. 228). München: Iudicium.
Wenn man die verschiedenen Teile der Identität bündelt, lässt sich die Mehrsprachigkeit des Individuums illustrieren und aufzeigen, wie diese in bestimmten Bereichen verwendet wird (vgl. Kresic, 2006). Die Lebensform der Individuen kennzeichnet sich demnach durch „das Sein in einer heterogenen Vielfalt an vernetzten Sprachspielen und Lebenswirklichkeiten“ (Kresic, 2006, S. 230).
In Anlehnung an Keupp und dessen Machtbegriff soll mit Bourdieu angeknüpft werden. Laut diesem resultiert ein sprachlicher Ausdruck aus der Zusammensetzung von sprachlichem Habitus (1) und sprachlichem Markt. Die mit dem sprachlichen Markt verbundenen Preisbildungsgesetze verleihen den Worten einen gewissen Wert (vgl. Bourdieu, 1993; 2005). Erwähnt werden sollen insbesondere auch die nonverbale Kommunikation und dass es unmöglich ist, sich nicht zu verhalten und folglich nicht nicht zu kommunizieren. Sprache ist sozusagen die grösste Macht des Menschen, es ist ein Medium des Sinns, sie macht den Menschen zum Menschen (vgl. Angehrn, 2012).
Erfolgt der Spracherwerb nicht freiwillig, kann er für die eigene Identität als bedrohlich empfunden werden. Dies im Gegensatz zum freiwilligen Spracherwerb, der für die Gestaltung der Identität als bereichernd erfahren wird (vgl. Oppenrieder & Thurmair, 1993, S. 48). Mit der Zweisprachigkeit könnte ein geteiltes Zugehörigkeitsgefühl einhergehen, wobei auch das Bestimmen der eigenen Denksprache herausfordernd sein kann (vgl. Blocher, 1909). Wenn man Spracherleben thematisiert, sind Selbst- und Fremdwahrnehmung wie auch Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit wichtige Aspekte. Die Macht von Sprache zeigt sich ausserdem im sprachlichen Repertoire, welches alle sprachlichen Mittel enthält, über die das Individuum verfügt. Das sprachliche Repertoire ist nicht austauschbar und einer lebenslänglichen Veränderung und Anpassung unterlegen (vgl. Busch, 2013). Damit Kategorien entstehen, müssen andere Kategorien ausgeschlossen werden, was auch begründet, weshalb Kategorien wie Mehr- und Minderheitensprachen entstehen. Der Spagat zwischen dem Eigenen und Fremden scheint für Zweisprachige herausfordernder wie auch emotionsgeladener als für Einsprachige. Die damit zusammenhängenden Entscheidungen sind nicht zuletzt entscheidend für die Identitätskonstruktion, deren Teile und die Sprachverwendung in den entsprechenden Bereichen (vgl. Modell der multiplen Sprachidentität nach Kresic).
Bekannterweise unterliegt das Rätoromanische aufgrund von geografischen, wirtschaftlichen, politischen, historischen, religiösen und psychischen Faktoren seit Jahrzehnten einem stetigen Rückgang. Die Rätoroman_innen sind quasi bilingual, zumeist sprechen sie aber Deutsch, wenn Deutschsprachige in einer Gesprächsrunde anwesend sind. Wenn sich ein Gebiet durch mehr als eine offizielle Sprache auszeichnet, kann dies zur Entstehung von zweisprachigen Schulen führen. Für die Minderheitensprache könnte dies somit eine Aufwertung mit sich bringen. Denn vor allem bei „Gemeinden mit einer schwächeren Präsenz des Rätoromanischen kommt der Schule eine besondere Bedeutung zu“ (Grünert, 2008, S. 388). Dank zweisprachigen Schulen „lässt sich auch in der Zweitsprache eine Sprachkompetenz erreichen, welche im herkömmlichen Unterricht nicht einmal annähernd erreicht wird“ (AVS, 2017). Damit eine zweisprachige Schule funktioniert, hat sich die Lehrperson ihres Einflusses bewusst zu sein. So gilt es Herausforderungen zu überwinden, die aufgrund von Machtverhältnissen innerhalb der Sprachen, eigenen Anforderungen und Einstellungen auf Seite der Akteure wie Kinder, Eltern oder Behörden entstehen. Die Konfrontation mit dem Mehrsprachigen hat folglich nicht nur Auswirkungen auf die Identitätskonstruktion der Schülerinnen und Schüler, sondern auch auf jene der Lehrperson.
2 Methode
Im Anschluss an diese Ausführungen lässt sich folgende Fragestellung formulieren: Welchen Einfluss hat Sprache auf die Identitätskonstruktion von Lehrpersonen zweisprachiger Schulen am Beispiel deutsch/rätoromanisch? Wie lassen sich deren Sprachidentitäten beschreiben?
Die Datenerhebung erfolgte bei acht Lehrpersonen aus zweisprachigen Schulen in Chur, Ilanz und Trin.
Erhoben wurden die Daten anhand von Leitfadeninterviews. Die Auswertung (2) der transkribierten Leitfadeninterviews geschah mittels der interpretativen Analyse, das biografische Erzählen „steht in Bezug zu politischen und anderen Diskursen und ist als situative Hervorbringung zu betrachten“ (Busch, 2013, S. 35).
Befragte/r |
Jahrgang |
Stufe |
B1 (männlich) |
1972 |
LP 5./6. Klasse |
B2 (weiblich) |
1986 |
LP 4. Klasse |
B3 (weiblich) |
1977 |
LP 3./4. Klasse |
B4 (weiblich) |
1988 |
LP Kindergarten |
B5 (weiblich) |
1958 |
LP Kindergarten |
B6 (weiblich) |
1982 |
LP 3./4. Klasse |
B7 (weiblich) |
1973 |
LP 1./2. Klasse |
B8 (weiblich) |
1980 |
LP 5./6. Klasse |
Abb. II: Informationen zum Sample
Beispiel eines Interviews im Ausschnitt als Tondatei
3 Ergebnisse
Die Resultate meiner Studie lassen sich in drei Themenkreisen zusammenfassen:
In Bezug auf die Sprachverwendung zeigt sich das Rätoromanische bei Lehrpersonen in zweisprachigen Schulen, was die möglichen Kinder, das Elternhaus und den früheren Wohnort betrifft, präsenter als das Deutsche. Ebenso im Bereich Bildung, wo die besuchte Volksschule und der gewählte Studiengang zur Ausbildung als Lehrperson eine Dominanz der rätoromanischen Sprache beweisen. Eine Konfrontation mit der deutschen Sprache findet vor allem durch den Partner resp. die Partnerin wie auch durch den gegenwärtigen Wohnort statt.
3.1 Spracherleben: Sprachwechsel und –anpassungen
Generell gilt, dass es bei der sich angewohnten Sprache mit dem Gegenüber keinen Wechsel gibt: wenn du mol mit öppertem aafangsch dütsch reda oder romanisch reda, denn blibsch immer bi dem (B1, Z. 31-32), also das isch so mini Überzügig (.) dia Sproch woma zerscht gredt hät mitere Person, dia blibt aim aifach (B5, Z. 588-589). Sprachwechsel können auch veränderte Sprachinhalte zur Folge haben, wenn i mit minem Brüatsch dütsch reda muass, findi das schu (.) aso uuuh, oder extrem unpersönlich (.) und denn hemer nia so tüüfgründigi Gspröch au ka, denn het me immer au so e chli so jo ( B2, Z. 501-503). In der Familie oder in kleinen Gruppen geschieht der Sprachwechsel im Vergleich zu ganzen Dorfgesellschaften häufiger: döt nimmt nid a ganzi Gruppa denn no Rücksicht uf 1 Person (.) döt bisch aifach dört denebet und wie en (.) tgutg (3) und verstoosch halt nüt (B2, Z. 514-515).
Anpassung kann jedoch auch als selbstverständlich und wichtig betrachtet werden: I main denn, wema irgeneswo anders goot, denn passen dia sich ja nid an mi aa, [...], wenni en Teil vo dera ganza Sach will werda, denn muassi mi jo au aso aapassa (B8, Z. 541-545), will susch (.) lernsch eswia nüt (.) vo de Kultur oder (.) jo (B6, Z. 342-343). In Bezug auf die Anpassung an Deutschsprachige erwähnt B3: aber s isch s isch no luschtig (.) me muass uu ufpassa, dass ma nid driikait, waisch, dass ma, wema öppis mit em andere schnell säge will, dass me denn nid uf Romanisch wechslet (B3, Z. 124-125). Ebenso taucht als Problem die Möglichkeit auf, dassi d Wörter nid so han zum das säga, woni usdrugga will (.) äs kann au sii (.) zum Tail gits es si nit oder äs äs hät e bitz en anderi Bedütig (B3, Z. 192-193). Interessant angesichts der Identität erweist sich auch der Wechsel von Dialekten: und denn hani döt müassa aafanga Sursilvan schwätze, oder grad wechsla und jetzt tuani das mit allna Lüüt, i tuan immer wechsla (B7, Z. 1095-1096). Dies scheint der Gewährsperson zu gelingen, denn sie sagt aus: denn wüssens gar nid, dass i vo, vo Sedrun bin (B7, Z. 1100). Da die Befragten stark mit dem Zweisprachigen konfrontiert sind, charakterisieren sie sich, was Anpassungen betrifft, somit durchaus als flexibel.
3.2 Spracherleben: Hemmungen und Schamgefühle
Spracherleben beinhaltet nicht selten auch bewusste oder unbewusste Schamgefühle. Und tatsächlich, praktisch alle Befragten kennen Hemmungen sowie die damit verbundenen Erfahrungen in der Interaktion mit der Gesellschaft. So wird von Situationen erzählt, wo sie ausgelacht wurden: Und ich chan dier no genau säge, was für Sätz oder was für Wörtli mier gsait hen, dass sie üs denn nocher au usgglacht hend (B2, Z. 108-109). Auch auf die oftmals mit dem Beruf der Lehrperson verbundenen Erwartungen, als Lehrperson die Sprachen perfekt zu beherrschen, wird hingewiesen und die Unsicherheit, es chönti ja falsch sii und du als Leererin tarfsch, jo muesch jo Dütsch perfekt chöna (B2, Z. 675-676). Es ist jedoch zwischen verschiedenen Arten von Auslachen und dessen Auffassung zu unterscheiden: es isch scho, wenn irgendöppis wirggli komisch seit, also denn lacheds jo (.) aber das machen miar jo au (.) aso es isch kai, eswia kai uslacha, es isch eifach lacha will’s blöd überikunnt (B6, Z. 507-509). Für Hemmungen und Schamgefühle ausschlaggebend kann auch ein meist zu hoher Anspruch an sich selbst sein: Min Aaschpruch isch maischtens denn z hoch [...] jo waissi denn nid so und denn das ärgeret mit denn, aso i würs besser könna (B8, Z. 555-557). Es ist unterschiedlich, wie mit Schamgefühlen umgegangen wird oder wie Hemmungen persönlich aufgefasst und bei anderen erlebt werden. Entsprechend ist der Einfluss auf die Identität unterschiedlich.
3.3 Spracherleben: Stolz und Selbstbewusstsein
In Bezug auf die Zwei- und Mehrsprachigkeit verfügen alle Befragten über einen gewissen Stolz, so betont B1: mol i kann aigentlich dia Sproch (.) i khöra zu dära Sprochminderhait (B1, Z. 128-128). Auch andere Befragte erwähnen positive Erfahrungen mit dem Rätoromanischen, ist es doch so quasi es Plus ( B3, Z. 367-369) und hützutags hani scho, eba, ischs wia modern worda, wenn du das kasch, bisch wia öppis speziells halt (B7, Z. 749-750). Das Selbstbewusstsein und eine Sicherheit innerhalb der eigenen Identität scheint wegen oder auch trotz eventueller negativer Erlebnisse vorhanden zu sein, was zum Beispiel durch das Eingestehen von Fehlern bewiesen wird. So können die Befragten sprachliche Unsicherheiten durchaus zugeben, aber i sägs denn au, oo jetzt waissi nid jetzt muessi das schnell nochaluega (B2, Z. 715-716), do hani kai Problem zum säga, i kann das jetzt nit so guat oder hilf mer emol wiiter (B5, Z. 274-275). Dieser Stolz kann sich durchaus erst mit einem gewissen Alter zeigen: waisch, de Stolz uf dia Zwaisprochigkait i glaub, die kunnt erscht (.) dia kunnt erscht mitem Alter (B1, Z. 102-103) oder: i glaub je älter dass du wirsch und plötzlich denggsch du jo denn söllens halt dengga (.) khört mes halt (B7, Z. 725-727).
Abb. III: zweisprachige Schule Lachen in Chur (Foto Stadtschule Chur)
3.4 Sprachbedeutung: Individuelle Ebene
Es kann angenommen werden, dass die Tätigkeit als Lehrperson einer zweisprachigen Schule (deutsch/rätoromanisch) mit einer sprachlichen Versiertheit einhergeht. Einige Befragte sagen aus, dass sie komplett zweisprachig seien: i bin hundert Prozent zwaisprochig ((kurzes Lachen)) (B5, Z. 116), i mergg nit, aso miar isch amigs nid bewusst öbi jetzt dütsch oder romanisch reda (B5, Z. 107-108). Oder – aufgrund von langjähriger Unterrichtstätigkeit und der zusammenhängenden Konfrontation mit dem Rätoromanischen, meint jemand: mittlerwiila könnti glaub würggli säga, s isch aa seer zwaisprochig (B1, Z. 65-66). Obwohl man zwei Sprachen gleich gut beherrschen kann, fällt der Begriff der Herzsproch, wo me villicht lieber het (B2, Z. 252), denn wenni öppis uf dütsch studiera muass (.) goots überhaupt nit ring zum dä die Gedanke denn so z ordne (B2, Z. 271-272). Oder: wenni öppis energisch muass säga, denn sägi das uf romanisch (.) so, denn kunnt das mit mee Nachdrugg (B8, Z. 335-336). Das Beherrschen verschiedener Sprachen und die Auswirkungen auf die Identitätsteile beschreibt B2 als ds Portfolio vo aim selber oder wenn du verschiideni Sprocha häsch, es isch öppis, s isch en Tail vo dier, ganz sicher oder (B1, Z. 485-486). Sprache als Türöffner zu anderen Menschen und dur ds Romanischa isch miar das aifach bewusster glaub i ( B1, Z. 283). Jemand sagt dazu aus: aso i bin aifach dr Mainig, Zwaisprochigkeit öffnet aim aifach dr Horizont (B5, Z. 188). Das Mehrsprachige gilt als extremi Beriicherig (B1, Z. 181), es ist uu cool (.) uu interessant und ich bin au uu stolz, dass mer so öppis hend, also dass mer würggli (.) zwüschet dütsch, romanisch würggli hin und her ja switche khan (B2, Z. 233-234). Es ermöglicht ein vernetztes Denken, du gosch denn nit nu uf ai Siita, du denksch denn aa jo, i wüsst jo das au no aso wia kanni denn das uf ds nökschta irgendwia au kombiniera (B4, Z. 593-594). Die Auswirkung auf die Identität durch die Aneignung des Deutschen zeigt sich vor allem auch bei B6: woni eba no wenig Dütsch gschwätzt han, denn (.) bini a kli reserviarter gsi oder jo, nid so offa (B6, Z. 1144-1145). Früher ging es weniger automatisch, es brauchte mehr Überlegung und denn ischs scho verbi (B6, Z. 1130); so gilt doch: aigentlich muasch immer übersetze (2) und denn erscht reda (B6, Z. 97). Nebst dem Romanischen als Schlüssel zu anderne Sprocha und aifach d Sproch isch en Schlüssel zu de Lüüt au (B3, Z. 155-156) wird auch die Bedeutung der Kultur sichtbar: jo, i, äs isch sone Lebensschtil (.) Kultur, äs isch ää au e bitz wia Charakter (2) prägt en Charakter (B3, Z. 150-151). Charaktereigenschaften beschreibt auch B2: wia ma sich au fühlt, het schu au mit de Sproch z tua (.) isch ma selbst selbschtsicher (2) het mer Kollege [...] isch ma offa (.) schüch (B2, Z. 265-267). Am wohlsten fühlen sich die meisten Befragten im Rätoromanischen - B2 selbst denkt extrem romanisch oder nu romanisch (B2, Z. 284),ja Romanisch isch scho (.) so wie Dihai-sii ( B2, Z. 584-585). Aber: es gengti au ohni Romanisch dur dr Alltag, also (.) ganz sachlich gsee (B8, Z. 393). Oder: villicht sin miar Romana aifach gwöönt, dass miar üs aapassa müand und miar aifach e Sproch lerna müand und denn machen miar das aifach (B6, Z. 220-222). Somit kommt auch die Notwendigkeit, die deutsche Sprache beherrschen zu müssen, zum Ausdruck: für mi isch ds Dütsche aigentlich, jo das kanni und das kanni brucha (.) denn isch es denn au (B6, Z. 1161).
3.5 Sprachbedeutung: Strukturelle Ebene (zweisprachige Schule)
Den Schülerinnen und Schülern die Botschaft zu überbringen, dass sie dank Sprachen Verbindungen knüpfen, Brücken bauen und Parallelen finden können, liegt sämtlichen Befragten am Herzen. Freude zu vermitteln ist ebenfalls ein Anliegen. So sollen die Schülerinnen und Schüler merken: he das isch cool, i kann jetz öppis no mee, aigentlich, i waiss jetzt, wia das uf Dütsch haisst und i waiss aber au wias uf Romanisch haisst (B4, Z. 185-186), das isch en Schlüssel für anderi Sprocha und wenn du, wia du vorher gfrogt hesch (.) waisch d Sproch, gäll, d Sprooch isch öppis wo wo du aigentlich immer immer bruchsch und wo di au zema zemabringt und zemafüehrt als Menscha irgeneswia (.) und aifach das e bitz ihne ufzzeige, villicht (.)dass sie öppis speziells sind eso (B1, Z. 668-674). Angesichts des Werts von Mehrsprachigkeit gilt: es spiilt kai Rolla, was für Sprocha as es sin, wichtig isch, es sin zwai (B5, Z. 852-854). Oder: dass ma aifach do immer wider und dass isch nemli ganz spannend au für d Kind, sii finden das au uu guat eso märgga wiavil Parallela gits (B5, Z. 479-482). Spracherwerb soll als etwas Neues, etwas Zusätzliches und nicht als etwas Ersetzendes betrachtet werden, denn es goot jo nüt verlora (2) wenn ma dia zwai Sprocha näbenand hend (B8, Z. 775). Auch die zweisprachige Schule ist gemäss Aussagen der Befragten nicht in Gefahr, äs kömmed immer mee und mee (B6, Z. 892).
Abb. IV: Zusammenstellung von Lehrmitteln (Foto Flavia Hobi)
3.6 Typenbildung
Als Resultat der inhaltlichen Analyse der Ausprägungen von verschiedenen Merkmalen haben sich drei Typen in Bezug zur Zweisprachigkeit herauskristallisiert.
Die erste Kategorie - die „Herzsprachlerinnen“ - d.h. die Befragten B2 und B6, zeichnet sich durch eine starke rätoromanische Identität aus. Die Gewährspersonen zeigen und leben diese Identität auch deutlich gegen aussen.
Die Gewährspersonen B3, B7 und B8 in der Kategorie der „Muttersprachlerinnen“ sind ebenso in einem rätoromanischen Gebiet und mit Rätoromanisch als Muttersprache aufgewachsen. Im Gegensatz zu den „Herzsprachlerinnen“ scheinen sie aber gegenüber der deutschen Sprache toleranter. Sie erlebten weniger negative Erfahrungen damit und beharren in geringerem Mass auf dem Rätoromanischen.
Die Kategorie die „Zweisprachigen“ charakterisiert sich durch eine besonders stark ausgeprägte Zweisprachigkeit in der deutschen sowie in der rätoromanischen Sprache. Ausschlaggebend dafür können gegenwärtige Familienumstände, das zweisprachige Elternhaus (B1, B5) wie auch das deutschsprachige Aufwachsen (B4) kombiniert mit dem Besuch der rätoromanischen Schule (B1, B4, B5) sein.
4 Diskussion
In Beantwortung der Forschungsfrage zeigt sich insbesondere die Bedeutung von Macht als relevant, was Abb. V verdeutlicht. Bestand bereits im Vornherein die Annahme, dass Machtverhältnisse existieren, erwiesen sich speziell Machtstrukturen, deren Einfluss man sich vielleicht nicht oder auf geringere Weise bewusst war, als bedeutsam.
Abb. V: Darstellung zur zentralen Bedeutung der Macht
Ein Beispiel für solche Machtstrukturen wird im spontan verwendeten rätoromanischen Wort „tgutg“ (B2, Z. 515) für „Tölpel, Dummkopf“ im grundsätzlich auf Deutsch geführten Gespräch ersichtlich, was das Durchdringen der bestbeherrschten Sprache und somit deren Macht verdeutlicht.
Dies kann auch gegen die eigene Absicht geschehen: me muass uu ufpassa, dass ma nid driikait waisch dass ma, wema öppis mit em andere schnell säge will, dass me denn nid uf Romanisch wechslet (B3, Z. 124-125). Es stellt sich die Frage, wann die Anpassung zur Gewohnheit wird, mithin die Dominanz von der einen auf die andere Sprache übertragen wird. Eine stark ausgeprägte Zweisprachigkeit, d.h. eine grosse Macht beider Sprachen, zeigt sich wohl dann, wenn der Sprachwechsel automatisch stattfindet: also mittlerwiila würdi maina, mittlerwiila könnti glaub würggli säga s isch aa sehr zwaisprochig (B1, Z. 65-66). Diese Flexibilität in Bezug auf den Sprachwechsel kann ebenfalls als Machtmittel gedeutet werden, über welches vor allem auch die Sprechenden einer Minderheitensprache und der damit verbundenen Notwendigkeit für das Erlernen der Mehrheitssprache verfügen. Die sozusagen automatische Anpassung der Rätoroman_innen an das Deutsche bringt demnach auch die Stärke von sprachpolitisch begründeten Machtstrukturen zum Ausdruck. Einerseits wird die erlernte Sprache nach und nach angeeignet, man wird Teil des Neuen oder das Neue Teil der Identität. Andererseits kann die angeeignete Sprache weniger präsent sein, mithin von Individuum selbst weniger wahrgenommen werden. Die Wahl für eine Sprache ist durch den Ausschluss von anderen Sprachen zum entsprechenden Zeitpunkt immer auch eine Sprachabwahl. Das Ausmass der Sprachaneignung kann grösstenteils vom Individuum gesteuert werden. Bedeutend bei alldem sind einzelne Einstellungen, beeinflusst durch die äusseren Reaktionen, welche sich somit auf die Identitätskonstruktionen auszuwirken scheinen. Bezugnehmend zum theoretischen Teil besteht folglich die Möglichkeit, die jeweilige Lebenssituation am Modell der multiplen Sprachidentität zu veranschaulichen (vgl. Kresic, 2013). Denn jedes Individuum verfügt über ein individuelles sprachliches Repertoire (vgl. Busch, 2013). Angelehnt an Bourdieu (1993) kann ein Diskurs als sprachlicher Markt verstanden werden, wobei ebenfalls Machtverhältnisse resultieren. Es zeigen sich zahllose Perspektiven, wie Identität konstruiert, vom Individuum empfunden und wahrgenommen sowie darauf reagiert wird. Demzufolge sind es die Perspektive des Individuums, jene des Gegenübers oder auch die Perspektive des Individuums auf die Reaktion des Gegenübers, die in jeder Sprache eine andere Perspektive präsentieren und dies in den damit zusammenhängenden Zeiten und Räumen (vgl. Bachtin, 1979; 2008; Busch 2013).
5 Fazit
Die zentrale Erkenntnis besteht somit darin, dass wir uns in permanenten, sicht- und unsichtbaren Machtverhältnissen befinden. Wenn sich Identität konstruiert, erfolgt auch die Konstruktion von Macht und umgekehrt. Wird angenommen, dass sich Identität ständig wandelt, bringt dies auch eine stetige Veränderung der Machtkonstellationen mit sich. Je grösser die Konfrontation der Individuen mit den verschiedenen Sprachen, desto mehr Beziehungen sind vorhanden, was die Machtverhältnisse vielfältiger werden lässt und das Ganze komplexer gestaltet. Dies bedeutet anscheinend eine extremi Beriicherig (B1, Z. 181), denn sämtliche Befragten betonten das Mehrsprachige als positiv, es öffnet extrem viil Türa (B5, Z. 172). Anstelle von Identitätsdiffusion oder Mühe aufgrund eines geteilten Zugehörigkeitsgefühls (vgl. Blocher, 1909), wurden demnach die Horizonterweiterung, eine Perspektivenöffnung, die Verbindungsherstellung, das Brückenbauen und Parallelenfinden sowie die Schlüsselerlebnisse hervorgehoben.
Anmerkungen
(1) Lateinisch habitus = Gehabe; äussere Erscheinung; Haltung; Verhalten, persönliche Eigenschaft (https://www.duden.de/rechtschreibung/Habitus)
(2) Werden Leitfadeninterviews ausgewertet, geht es um die methodisch kontrollierte Entdeckung von neuen Zusammenhängen (vgl. Kleemann et al., 2008).
(3) „tgutg“ Rätoromanisch Sursilvan für „Dummkopf“, „Tölpel“ (http://www.vocabularisursilvan.ch/index.php)
Literaturverzeichnis
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Bourdieu, P. (2005). Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik & Kultur 1. Hamburg: VSA-Verlag.
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Kanton Graubünden: Amt für Volksschule und Sport(AVS). Zweisprachige Schulen. Download am 29.08.2017 von
Kleemann, F., Krähnke, U. & Matuschek, I. (2009). Interpretative Sozialforschung. Eine Einführung in die Praxis des Interpretierens. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
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